Sonntag, 10. Oktober 2010
Rivale 2
Der allererste Eindruck von ihm war: Unscheinbarkeit eines jungen Mannes. Das war vor den Eindrücken, die mein Bild von ihm geprägt haben. Da habe ich ihn wahrgenommen nicht als eine in Erscheinung tretende Person, sondern nur als eine Silhouette. Silhouette der zweiten Person, die neuerdings gegenüber wohnte in der Dachwohnung. Ein Unterrnieter vermutlich. Student, der da wohnt bei der Frau, welche die Hauptperson war und die Hauptmieterin zu sein schien in der Wohnung. Lebhafte Person. Starke Präsenz. Jedes Jahr in der Karnevalszeit hat sie eine Party gemacht. Lustige Dekoration im Wohnzimmer. Partylicht. Gedränge von Gästen mit Glas in der Hand. Tanzen? Haben die getanzt? Daran kann ich mich nicht erinnern. Auch nicht an Musik. Gut isolierte Fenster oder Rücksicht gegenüber den Nachbarn. Weil sie jährlich die Faschingspartys machte und es in etwa zum Zeitpunkt des Regierungsumzugs von Bonn nach Berlin war, dass die lebhafte Frau eingezogen ist gegenüber, habe ich mir gedacht, die hat bestimmt einen Job im Regierungsapparat. Die kommt aus dem Rheinland und da fehlt ihr jetzt der Karneval. Och je! – Jahre später habe ich eines Tages gesehen, wie sie aus dem geöffneten Fenster nach links und rechts die Straße fotografiert hat. Kurz darauf war sie weg. Zurück in ihre Heimat gezogen wahrscheinlich. Da wird sie froh sein, dass sie jetzt wieder ihren jährlichen Karneval hat im Rheinland. Sie kam dann immer mal wieder zu Besuch. Um nach dem Rechten zu sehen? Weil das ihre Wohnung ist, habe ich angenommen. Eigentumswohnung. Denn das hatte mir mal jemand erzählt, dass die Wohnungen gegenüber alle Eigentumswohnungen sind. Der unscheinbare junge Mann wohnte jetzt alleine in der Wohnung. Als Mieter der lebhaften Frau, dachte ich mir. Was man eben so denkt, wenn man sich flüchtige Eindrücke zusammenreimt, obwohl man es besser bleiben lassen sollte. Denn später stellt sich so gut wie immer heraus, dass man völlig daneben gelegen hat. In diesem Fall stellte sich heraus, dass die lebhafte Frau nichts mit dem Regierungsumzug zu tun hatte und nicht in ihre rheinische Heimat zurückgekehrt ist. sondern übergesiedelt nach London, wo sie eine für ihren Beruf sehr attraktive Aufgabe übernommen hat. Und weiter stellte sich heraus, dass der unscheínbare junge Mann nicht ein Untermieter war, sondern ihr Mann ist, wie sie mir sagte, als ich im vergangenen Juli in der Wohnung gegenüber angerufen habe und die Tess sprechen wollte, aber dann sie, Andrea Mulder, ans Telefon bekam. - Langweilig? – Es bleibt langweilig. Obwohl dann etwas Überraschendes geschah. Der unscheinbare junge Mann, der weiter in der Wohnung wohnte, nachdem die lebhafte Frau weg war, trat nun nämlich - für jedermann in den höher gelegenen Wohnungen der Nachbarschaft sichtbar – in Erscheinung. Denn jetzt fing das an mit dem Dachsitzen. Obwohl nicht anzunehmen ist, dass das seine Absicht war, für die Nachbarschaft in Erscheinung zu treten.. Er hat sich auf das Dach gesetzt – ein gering geneigtes Dach, das mit Teerpappe gedeckt ist -, weil ihm das gefällt: den weiten Blick über die anderen Dächer zu haben. Weil er das für etwas Besonderes hält, was es ja auch ist. Und deshalb hat er auch andere mit genommen auf das Dach und ihnen das Dachsitzen vorgeführt und den Blick über die Dächer. - Ich habe keine Erinnerung daran, wann ich ihn zum ersten Mal auf dem Dach gesehen habe – und mit wem er da war oder ob er da alleine war. – Nein, da war er wohl schon mit Besuchern. Und er ist mit ihnen auch auf dem Dach herumgegangen. Das hat er später nicht mehr gemacht. Da kannte er das schon, und es hat wohl nicht so viel gebracht, das Rumgehen. In Erinnerung ist mir nur geblieben, wie er da saß mit einer Gruppe von sechs, sieben Leuten. Er mit dem Rücken zum Nachbarhaus. Die anderen vor ihm einen Halbkreis bildend. Ihn umlagernd. Und er hat geredet. Mit ausholender Gestik seine Rede begleitend. Die anderen hingen sozusagen an seine Lippen. – Später, als ich mitgekriegt habe, dass er an einer kleinen universitären Einrichtung lehrt, mittlerweile als Professor, hat das die Szene erklärt. Das müssen Studenten von ihm gewesen sein. Und er hat in der Rolle des Lehrenden zu ihnen gesprochen. Gar nicht unbedingt über einen Lehrstoff, vielleicht über etwas Persönliches, Privates. Denn es war eine private Situation. Er hatte die Studenten zu sich mit nach Hause genommen oder zu sich eingeladen. Zum Kaffetrinken? Es war Nachmittags an einem Samstag. Gegen 16 Uhr. - Hauptzweck der Einladung war das Dachsitzen sicher nicht. Die jungen Leute waren bei ihm zu Besuch und da hat er ihnen gezeigt, wie schön es bei ihm auf dem Dach ist. Um sie daran teilhaben zu lassen. Um sie auch mal den unvergesslichen Blick über die Dächer des mittleren Schönebergs genießen zu lassen. Oder um sich zu profilieren. Ich denke, um sich zu profilieren damit. Und darauf komme ich, weil ich annehme, dass er einer ist, der sich profiliert auf eine solche Art, weil das zu der Art und Weise passt, wie er da gesessen hat mit dem Studenten um sich herum und geredet hat mit ausholender Gestik. Großspurig. Sie ist mir großspurig vorgekommen seine Art, wie er da zurückgelehnt saß und sich vor seinen Gästen aufgeführt hat. In Szene gesetzt hat vor den Gästen. Und die Szene war, dass er mit ihnen auf dem Dach saß über der Dachwohnung, in der er wohnt. Mit dem Blick über das mittlere Schöneberg. Und das ist schon etwas Besonderes. Das hat er ihnen gezeigt, dieses Besondere und dass er etwas Besonderes ist. Wie wir mittlerweile alle etwas Besonderes sind. Und jeder von uns bemüht sich auf seine Art, das zu beweisen. Er unter anderem, indem er Leute mit auf das Dach mitnimmt über seiner Wohnung und sich profiliert als ein Typ, der so locker und extravagant ist - sagt man noch extravagant? -, so unkonventionell und abenteuerlustig und individuell. – Jetzt beim Schreiben glaube ich mich daran erinnern zu können, dass keine Frauen in der Gruppe der Studenten waren, die er auf sein Dach mitgenommen hatte. Ich weiß es nicht mehr genau. Nur, wie ich meine Reflexe kenne, habe ich deswegen bestimmt in Erwägung gezogen, dass er schwul ist. Was wiederum zu dem gepasst hat, was ich zuvor wahrgenommen hatte. Dass er wohnte mit der lebhaften Frau in der Wohnung. Dass aber nichts darauf hindeutete, dass die Frau und ihn mehr verbindet als das Zusammenwohnen. Ja, ich habe ihn von da an für schwul gehalten. Es war ja auch keine Frau mehr zu sehen in der Wohnung, nachdem die lebhafte Frau weggezogen war. Lange war keine Frau mehr zu sehen. Allerdings auch keine andere Person. Bis zu dem Samstagmorgen, an dem er mit einer jungen Frau auf dem Dach saß, mit der er offenbar zusammen gefrühstückt hatte, und jetzt hatten sie ihre Kaffee- oder Teebecher mit aufs Dach genommen, das er ihr gezeigt hat als die Besonderheit seiner Wohnung und seines besonderen Lebensstils. Und der Haarzustand der Frau ließ vermuten, dass sie noch nicht geduscht und also bei ihm übernachtet hatte. Da er ihr an diesem Morgen offensichtlich zum ersten Mal sein Dach zeigte und die Frau vorher noch nicht zu sehen gewesen war, nehme ich außerdem an, dass das es ihre erste Liebesnacht gewesen ist. Und es spricht viel dafür, dass diese Frau damals die Tess war. Von der wusste ich damals noch nichts und so war alles, was ich dachte: Aha, dann ist er also doch nicht schwul. – Nein, das stimmt nicht, das war nicht alles. Denn, als er mich auf dem kleinen Balkon stehen sah, auf dem ich gerade Klamotten zum Lüften aufhängte, hat er hergedeutet zu mir und der Frau etwas erzählt, was nur etwas über mich gewesen sein kann – danach zu urteilen, wie er und die Frau dabei zu mir herschauten. Ich konnte es mir denken, was er der jungen Frau erzählt hat und ich war erstaunt darüber, dass er das tat. Was er ihr erzählt und dass er es ihr erzählt hat, das ist der zweite Eindruck, der mein Bild von ihm geprägt hat. Fortsetzung folgt.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen